Die Zukunft des Reisens
complete Magazin 2024
Pandemie, Klimakrise und Overtoursim haben dem Tourismus zugesetzt. Wie Urlaub künftig aussieht und welche Reisetrends uns erwarten, erklärt der Zukunftsforscher Andreas Reiter. Zeit mit Mona Lisa wird man kaufen.
Eigenlob stinkt. Vor allem der üppige Gebrauch von Superlativen. Die Stadt Wien überschlägt sich nach den Krisenjahren mit Jubelmeldungen. Es sei nicht nur gelungen, den stotternden Wiener Tourismus wieder anzuwerfen, 2023 brachte das „zweitbeste Nächtigungsergebnis aller Zeiten“. Tourismus ist ein Garant für Arbeitsplätze, die Nächtigungsumsatz-Milliarde, die rund 7,4 Millionen Gäste in der österreichischen Hauptstadt ausgaben, ein wichtiges Einkommen.
Doch Eigenlob – das hatten wir schon. Klimakrise, Overtourism, Emissionen, Gentrifizierung, schlechte Arbeitsbedingungen – auch das verbindet man mit der Reisebranche. Probleme, die einem schon mal die Lust auf Urlaub vermiesen. Zum Glück stellt die junge Generation der Reisenden andere Erwartungen an den Traumurlaub.
Was bedeutet das für den Tourismus der Zukunft? Laut Andreas Reiter, Zukunftsforscher mit Schwerpunkt Tourismus, steht die Branche vor einem Paradigmenwechsel. Seine Prophezeiungen klingen nach dem Ende des Reisens, wie wir es kennen.
Herr Reiter, die Nächtigungszahlen sind trotz Pandemie, Ukraine-Krieg, hohen Energiepreisen und steigender Inflation fast wieder auf dem Rekordhoch von 2019. Wie das?
Andreas Reiter: Es hat sich gezeigt, dass Reisen allen Krisen und der Inflation zum Trotz ein begehrtes Gut sind. Die Menschen sind bereit, dafür auch mehr Geld in die Hand zu nehmen. Urlaub ist konnotiert mit Freiheit. Er steht für das, was man in der Psychologie als Selbstwirksamkeit bezeichnet: das Urbedürfnis von Menschen, sich selbst zu spüren und auszuleben. Gerade heute, in unserem schnelllebigen Alltag, spüren viele das Bedürfnis nach Resonanz mit sich selbst und der Umwelt. Deshalb gewinnt gerade das Erleben von Natur wieder an Wichtigkeit. Das schlägt sich im Tourismus in neuen Beherbergungsformaten nieder: Baumhäuser, Apartments in alten Weinfässern, Wasserburgen und Hausboote liegen gerade sehr im Trend.
Woran liegt das?
Reiter: Seit Pandemieende suchen die Menschen im Urlaub mehr Naturnähe und Lebensintensität. Mental Health ist ein großes Thema geworden – auch für den Tourismus. Für Urlaubsdestinationen ist es wichtig, gesund und intakt zu sein. Draußen ist das neue Drinnen. Der Mental Health-Trend zeigt sich im Tourismus in holistischen Konzepten. Heute sind Yoga-Retreats in schöner Wohlfühlarchitektur so omnipräsent, wie es vor zehn Jahren Coffee-to-go-Becher waren.
Massentourismus in unberührter Natur – ist das nicht ein Widerspruch?
Reiter: Um es mit dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger zu sagen: „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet.“ Das ist die Widersprüchlichkeit unserer Welt. Diese Widersprüche muss man akzeptieren.
Wie kann man die negativen Folgen des Tourismus reduzieren?
Reiter: Diesbezüglich ist gerade viel in Bewegung. Vor allem die junge Generation stellt höhere Ansprüche an Urlaubsdestinationen und fasst den Nachhaltigkeitsbegriff bedeutend weiter: Nicht nur ökologische Kriterien, also Sustainable Development Goals, wie etwa nachhaltige Lieferketten, müssen erfüllt werden, sondern auch soziale, wie die faire Entlohnung der Mitarbeiter:innen.
Ihre Prognose in Sachen Urlaubsreiseverkehr?
Reiter: Der Flugverkehr ist innerhalb Europas massiv in Bedrängnis. Es ist nicht mehr chic, zu fliegen. Distanzen unter tausend Kilometern werden in Europa mit dem Zug zurückgelegt werden. Man kann diese Entwicklung aktuell bereits auf der Strecke Berlin–München sehen: Flüge sind bereits drastisch zurückgegangen. Das europäische Zugnetz wird stark ausgebaut werden. Eine Highspeedstrecke Wien–Berlin, die man in nur vier Stunden zurücklegen kann, ist bereits ratifiziert. In Frankreich dürfen für Strecken, die der TGV innerhalb von zweieinhalb Stunden schafft, keine Flüge mehr angeboten werden. Zum innereuropäischen Städteurlaub reist man in Zukunft also nur noch mit dem Zug an. Einige Hotels vergeben für die umweltfreundliche Anreise bereits Ökopunkte in Form von Preisnachlässen. Seit ein paar Jahren bringen Skizüge Wintersportler:innen zu ihren Destinationen. Die neuen Nachtzüge werden auch immer bequemer. Natürlich kosten sie ein Vielfaches von Billigfliegertickets, und sie sind meist auf lange Zeit ausgebucht.
Ist die Demokratisierung des Reisens also vorbei?
Reiter: Das zuletzt gewohnte „anytime, for anyone“ wird’s in Zukunft nicht mehr geben. Es wird mehr Einschränkungen geben – auch aufgrund des Overtourism. Hochfrequenzorte wie Venedig, Amsterdam oder auch Lissabon müssen die Einheimischen wieder hinter sich versammeln. Manche dieser Destinationen haben schon vor Pandemiebeginn Demarketing betrieben und touristische Störenfriede wie Souvenirshops und Airbnb verboten, um die Lebensqualität der Bewohner:innen zu verbessern. Venedig führt demnächst einen Eintrittspreis für Tagestourist:innen ein. Auch die Vergabe von Timeslots wird immer beliebter – sei es in Restaurants oder Museen. Tickets sind oft schon über Monate hinweg ausgebucht.
In vielen beliebten Reisedestinationen gehört Schlangestehen längst zum Urlaubserlebnis dazu.
Reiter: Schlangestehen ist mittlerweile per se ein Event. Hat man die Challenge des Wartens bestanden und sich die Beute gesichert, hat man etwas zu erzählen. Auch das schafft Exklusivität. Wer nicht mit der Masse laufen will, wird mehr bezahlen müssen. Etwa für einen Sundowner am Markusplatz in Venedig. Auch ein paar intime Minuten mit der Mona Lisa im Louvre lassen sich kaufen.
Tipps
Im Blog von Andreas Reiter lesen Sie, was uns in Zukunft erwarten könnte und wie sich Tourismus, Städte und Gesellschaft verändern werden.
Das Zugfernreisebüro bucht Urlaub mit dem Zug.
Die Change Maker Hotels – knapp 40 Familien- oder Eigentümer:innen-geführte Hotels in Österreich, Deutschland und Südtirol – leisten Innovationsarbeit in Sachen nachhaltiger Urlaub.
Für das Buchungsportal für nachhaltige Hotels in Europa gelten die Kriterien des Globalen Rats für nachhaltigen Tourismus.
Der Vereinigung Bio Hotels gehören mehr als 80 Hotels in sechs europäischen Ländern an. Der Fokus liegt auf Bio-Lebensmitteln, aber auch erneuerbare Energie und Klimaneutralität sind Teil des Kriterienkatalogs.
Bild: Das Naturhotel Chesa Valisa im Kleinwalsertal ist ein Change Maker Hotel und Mitglied der Bio Hotels