Mit dem Wolf wandern
complete Magazin 06/23
Das Wolf Science Center geht Fragen rund um den Wolf auf den Grund. Und lädt zum Spaziergang mit Wolf Amarok. Eindrückliche Heulkonzerte von Nanuk, Tala und ihrem Rudel inklusive
Gelbe Augen beobachten jede Bewegung genau. Marianne Herblein öffnet die Sicherheitstür, die Leine in der Hand. „Auf geht’s!“ Die Verhaltensbiologin ist wissenschaftliche Leiterin des Wolf Science Center in Niederösterreich und arbeitet seit 14 Jahren mit Wölfen. Vor dem Gehege wartet eine kleine Gruppe Fans, aufgeregt wie kleine Kinder. Wolf Amarok wird mit ihnen einen Spaziergang durch den Wildpark Ernstbrunn machen.
Seinen Namen hat der graue Wolfsrüde Amarok aus der Mythologie der indigenen Völker im nördlichen Polargebiet. Eine Sage erzählt von Amarok als riesigem Wolf, der jeden frisst, der leichtsinnig genug ist, allein auf die Jagd zu gehen. Diese Gefahr besteht hier nicht. Der elfjährige nordamerikanische Wolf ist laut Marianne unerschrocken. Er hat kaum Berührungsängste mit Menschen. Man sieht ihm an: Amarok freut sich auf den Ausflug.
Wölfen ganz nah
Im Wolf Science Center sind Wölfe keine felligen Schwanzspitzen im entferntesten Winkel eines Zoogeheges. Amarok, Nanuk und Tala kommen neugierig zum Zaun. Mit Glück erlebt man eindrückliche Heulkonzerte. Derzeit leben hier elf Wölfe und elf Hunde, versorgt und trainiert von einem neunköpfigen Pflege-und Forschungsteam. Forschungsaufträge aus der ganzen Welt können hier eingereicht werden. Gerade läuft eine kanadische Studie, für die die Wölfe Halsbänder mit GPS-Trackern tragen. Zentrales Forschungsthema ist die Frage: Was unterscheidet den Wolf vom Hund? Wenn beide unter ähnlichen Bedingungen aufwachsen und ähnliche Umwelterfahrungen machen, sind sie besser vergleichbar.
„Wir hoffen dieses Jahr auf Wolfswelpen“, verrät Marianne Heberlein. Die kleinen Wölfe werden im Forschungszentrum zum ersten Mal ihre Augen öffnen. „Sonst wird der Beziehungsaufbau schwierig.“ Wölfe sind neophob. Was sie nicht kennen, ist für sie erst einmal gruselig. „Manchmal helfen uns unsere Privathunde beim Kontakt mit den Wölfen“, erzählt Heberlein. „Sie sind ihnen näher und vermitteln Sicherheit, etwa bei neuen Geräten.“
Wölfe waren die ersten Begleittiere des Menschen
Das Wolfsforschungszentrum widmet sich der Erforschung einer jahrtausendealten Beziehung. Nach heutigem Wissenstand sind Wölfe die ersten domestizierten Tiere. 40.000 Jahre lang dauert dieses Miteinander. Noch vor Kühen und Schafen, ja sogar bevor der Mensch überhaupt sesshaft wurde, duldete er den Wolf an seiner Seite.
In Österreich wurden Wölfe vor 140 Jahren durch systematische Jagd ausgerottet. Jetzt sind wir das letzte Land im Alpenraum, in dem der Wolf wieder heimisch wird. Das verursacht einerseits Widerstand, andererseits Willkommensjubel. Laut Albin Blaschka vom Österreichzentrum Bär Wolf Luchs leben im Land derzeit sieben Wolfsrudel. Vier in Niederösterreich, drei in Kärnten. Dazu kommen einzelne Wölfe auf Wanderschaft. Mit seinem Team arbeitet Blaschke im Österreichzentrum an einer möglichst konfliktfreien Koexistenz von Österreicher:innen mit den großen Beutegreifern. „Wir müssen uns mit dem Wolf arrangieren. Der Wolf kommt nicht, er ist längst da.“
Wer fürchtet sich vorm bösen Wolf?
„Entweder die Menschen lieben ihn oder sie hassen ihn.“ Marianne Heberlein ist erstaunt, wie stark der Wolf polarisiert. Rund um Österreich leben Wölfe. Allein in Deutschland sind es zwischen 1.500 bis 2.700 Tiere. In Polen war der Wolf nie ganz verschwunden, etwa 2.000 Exemplare und rund 95 Rudel werden dort gezählt. In der Slowakei schätzt der staatliche Naturschutz etwa 250 - 300 Tiere, Jäger:innen sprechen von über tausend.
Marianne Heberlein sieht sich und ihr Team in der Aufklärerrolle. „Wir geben fundierte Infos über Wölfe weiter. Was macht den Wolf aus, was ist er für ein Lebewesen.“ Schluss mit Rotkäppchen, den sieben Geißlein und Co. Die Besucherprogramme setzen schon bei den Kleinsten an. „Du schützt, was du kennst und verstehst.“ Bei Spaziergängen, Trainingstagen oder Workshops begeben sich Besucher:innen auf die Reise zum Wesen des Wolfes.
Das macht den Wolf zum Wolf
Was also unterscheidet den Wolf vom Hund? Warum verhätscheln wir den einen und verteufeln den anderen? „Der Hund akzeptiert steile Hierarchien. Er hinterfragt uns nicht ständig und akzeptiert Regeln, die wir vorgeben.“ Ganz anders im Wolfsrudel. Dort herrschen flache Hierarchien. „Alles wird immer wieder diskutiert und in Frage gestellt.“
Kaum ein Tier pflegt ähnliche Familienverbände und Lebensentwürfe. Ein Elternpaar lebt für eine begrenzte Zeit mit unterschiedlich alten Nachkommen zusammen, es führt das Rudel. Wer Leitwolf oder -wölfin ist, hat mehr mit dem Charakter zu tun als mit dem Geschlecht. Was dort Rudel heißt, nennen wir Familie. „Der Wolf ist uns ähnlicher, als wir glauben wollen.“
TIPP
Mit Patenschaften oder „großen und kleinen Freundschaften“ kann man das Wolf Science Center bei seiner Arbeit unterstützen.
Wolf-Begeisterte können den Tieren bei privaten Spaziergängen, Workshops und Trainings näherkommen. Für Familien und Gruppen organisiert das Team Exklusiv- oder Erlebnisführungen. Besonders Kinder freuen sich über ein privates Wolfsabenteuer mit Wolf Etu.
Das Österreichzentrum Bär, Wolf, Luchs arbeitet an konkreten Lösungsstrategien und Handlungsoptionen für das Zusammenleben Wolf-Mensch und veröffentlicht eine Karte mit aktuellen Wolfsvorkommen in Österreich.