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Nüchtern ist der neue Rausch

complete Magazin 08/22

Was versprechen alkoholfreie Weine und Destillate? Und wie schmeckt dieser neue Trend?

Alkoholfreie Destillate wie „Rick Free“ entfalten ihren Geschmack erst durch das Mischen mit anderen Zutaten zu Cocktails oder Longdrinks
© Shutterstock/Marian Weyo
Patrick („Rick“) Martinell kreierte mit „Rick Free“ 2020 den ersten alkoholfreien Gin – auch wenn der offiziell nicht so genannt werden darf
© Rick Spirit
Für den Fake-Gin werden Bio-Zutaten destilliert und entalkoholisiert, bis am Ende aromatisiertes Wasser übrigbleibt
© Rick Spirit
Alkoholfrei anstoßen wird immer beliebter: Das Berliner Start-up „Kolonne Null“ lässt alkoholfreie Edelweine und -sekte produzieren
© KolonneNull/Lucas Christiansen

„Sie werden fast nichts schmecken.“ Die junge Verkäuferin kippt Kostproben in kleine Pappbecher auf der Theke im gläsernen Showroom der „Rick Spirit World“ im Wiener Freihausviertel (https://rick-spirit.com). Sie hat recht: drei Shots mit homöopathischem Geschmack. Ein Hauch Zitrone im „Rick Free“, etwas Backrumaroma im weißen und eine Ahnung von Red Bull im dunklen „Rum“. Nicht übel, aber keinesfalls shottauglich.

Für den puren Konsum sind seine alkoholfreien Kreationen nicht gedacht, erklärt ihr Erfinder Patrick („Rick“) Martinelli, 42. Der angestrebte Geschmack ergebe sich erst durch das Mischen zum Cocktail oder Longdrink. Fragt sich nur, warum jemand alkoholfreie Imitate trinken sollte.

Ganz einfach, die Happy Hour des Alkohols ist vorüber. Laut der Weltgesundheitsorganisation geht sein Pro-Kopf-Verbrauch zunehmend zurück. Seit 2010 um rund zehn Prozent. Nüchtern ist der neue Rausch. Mehr als zwei Millionen Beiträge mit dem Hashtag #SoberLife belegen dies allein auf Instagram. Die Generation Z feiert lieber mit klarem Kopf. „Soberfluencer“ propagieren die Freude an der Abstinenz, Berühmtheiten wie Blake Lively, Bella Hadid und Katy Perry bringen antialkoholische Designerdrinks auf den Markt.

„Das Anstoßen ist in Österreich die Basis jeder Feier“, sagt Martinelli. „So gibt es einen gesellschaftlichen Druck, mitzutrinken.“ Deshalb hat er als Erster im Land neben Hochprozentigem auch den alkoholfreien „Rick Free“ kreiert. Bei der Start-up-TV-Show „2 Minuten 2 Millionen“ wurde er im Frühjahr 2020 erstmals präsentiert.

Seine Produktion war tricky. Und: Patrick Martinelli darf seinen Drink nicht als Gin titulieren. „Denn Gin muss mindestens 37,5 Prozent Alkohol enthalten, um als solcher zu gelten.“ So nennt er seine gezähmten Geister „alkoholfreie Destillate“. Dafür destilliert er Bio-Zutaten und entalkoholisiert sie, bis aromatisiertes Wasser übrig bleibt.

Dies sorgt bei der hochprozentigen Konkurrenz für Kritik: Alkohol sei ein wichtiger Geschmacksträger, alkoholfreie Spirituosen seien nicht von derselben Qualität. Außerdem soll bloß die Alkoholsteuer eingespart werden. So argumentieren alteingesessene Alkoholikaproduzenten im Kampf um den gewinnträchtigen Zukunftsmarkt.

„Das Problem ist die Erwartungshaltung“, meint Martinelli. „Alkoholische Schärfe und den Körper kann man natürlich nicht imitieren.“ Die Konsumentinnen und Konsumenten müssten sich auf das neue Erlebnis einlassen, und dazu müsse man sie führen. Das bestätigt Philipp Rößle, Mitgründer des Berliner Start-ups „Kolonne Null“ (https://kolonnenull.com): : „Alkoholfreier Wein wird nie das Gleiche wie Wein sein, sondern eine eigene Getränkekategorie.“ Kolonne Null kreiert seit vier Jahren mit traditionellen Weingütern alkoholfreie Premiumweine und -sekte. Seit Beginn ein Kampf, denn manche großen Weinbauverbände, unter anderem auch aus südlichen Ländern, wollen dem alkoholfreien Wein ein wenig das Leben schwer machen. „Es bedarf noch vieler Lobbyarbeit”, sagt Philipp Rößle. Doch die Aussichten für alkoholfreie Alkoholika seien berauschend. „Cola macht sich einfach nicht so gut im Weinglas.“

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