Paläste, Pesto und Piano
complete Magazin 2024
Die Hafenstadt mit der größten historischen Altstadt Europas liegt eingeklemmt zwischen Meer und Bergen an der ligurischen Küste. Star-Architekt Renzo Piano hat seiner Heimatstadt einen neuen „Alten Hafen“ und eine moderne Brücke geschenkt.
Kreuzfahrt- und Fähren-Transit. Christoph Kolumbus. Viel mehr kommt den meisten nicht in den Sinn, wenn sie an Genua denken. Genua, jene Stadt, die man umfährt oder möglichst schnell wieder verlässt. Kein Kolosseum, kein schiefer Turm, kein Trevi-Brunnen. Weltberühmt ist nur das grüne Pesto aus Basilikum, Parmesan und Pinienkernen. Pesto Genovese darf es allerdings nur heißen, wenn es in Genua und mit Basilikum aus dem Stadteil Prà hergestellt wird. Das muss dort an Küstenhängen unterhalb von 400 Metern wachsen. „Unser Basilikum braucht den Meerblick“, sagen die Genueser. Andernfalls ist es maximal „alla“ Genovese.
Centro Storico – der historische Stadtkern
„Centro Storico“ ist Europas größte mittelalterliche Altstadt. Prachtvolle Adelspaläste zeugen vom einstigen Reichtum der Hafenstadt. Seine Rolle im Seehandel machte Genua über Jahrhunderte ebenso mächtig wie Venedig. Und zu ihrer großen Konkurrentin. Wohlhabende Adelsfamilien errichteten ihre „Palazzi dei Rolli“. Marmor, Stuck, Malerei, prächtige Gärten, Springbrunnen. Bemerkenswert: Trotz ihrer internationalen Erfolge befanden sich die Genueser praktisch dauernd in einem Bürgerkrieg. 42 der insgesamt 163 genuesischen Paläste sind seit 2006 UNESCO-Welterbe. Viele sind im Besitz von Privatpersonen, einige wurden zum Sitz von Banken oder Büros, einige zu Museen.
Vom Glanz der Handelsmetropole ist nicht viel geblieben: Die Industrie- und Hafenstadt hat schwer unter den Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte gelitten. Die kunstvollen Fassaden bröckeln. Den Unterhalt der riesigen denkmalgeschützten Bauten kann sich kaum jemand leisten. Zwischen Prachtbauten und verwinkelten Gassen erreicht nur selten ein Sonnenstrahl das historische Pflaster. Viele Wohnungen und Ladenlokale in den alten Stadtpalästen stehen leer. Tourist:innen stolpern Regenschirmen hinterher, dazwischen fluchen rundliche Nonnas mit prallen Plastiktüten leise in ihren Damenbart. Aus den verbleibenden Läden, Restaurants und Bars duftet es nach Focaccia, Torta pasqualina und Gewürzen aus aller Welt.
Heimatstadt von Architekt Renzo Piano
Die alte Metropole an der ligurischen Küste ist die Geburtsstadt von Star-Architekt Renzo Piano. Das französische Kulturzentrum Centre Pompidou, das New York Times Building in Manhattan oder The Shard im Zentrum von London gehören zu seinen Werken. Genua blieb er stets verbunden. In einem Tweet schreibt er: „Meine Karriere begann als Kind. Mit Sandburgen an den Stränden von Genua.“ Das Hauptquartier seines Architekturbüros Renzo Piano Building Workshop liegt westlich der Stadt, zwischen Voltri und Vesima. „Seit Jahrzehnten reise ich um die Welt, aber diese Stadt ist der einzige Ort, an dem ich mich zu Hause fühle“, sagt er in einem Interview. In drei Jahren wird er neunzig Jahre alt. Seine Ideen und Bauwerke prägen maßgeblich Genuas modernes Gesicht.
Ein Mann und das Meer
Wie die einstigen Seefahrer reist Piano für seine Projekte um die Welt und kehrt immer wieder in seinen Heimathafen zurück. Seine beeindruckendsten Bauwerke stehen am Meer. Viele ähneln Schiffsrümpfen, wie das Nemo, ein Technologie-Museum in Amsterdam, oder das Kunstzentrum Centro Botín in Santander. Auch in Genua spielt das Meer eine zentrale Rolle. Von hier aus trat Kolumbus seine Reisen ins vermeintliche Indien an. Dem Entdecker ist an der Piazza Acquaverde ein Denkmal gewidmet: „A Cristoforo Colombo – La Patria“ (für Christoph Kolumbus – die Heimat).
Der Entdecker war es auch, der den Architekten wieder in die Heimat zurückbrachte. Zu den Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas gestaltete Renzo Piano den Porto Antico, den Alten Hafen, neu.
Neuer, alter Hafen
Als ehemaliger Industriehafen war der Alte Hafen lange Zeit von der angrenzenden Altstadt abgetrennt. Renzo Piano schuf in dem eng bebauten „Centro Storico“ einen der wenigen großen Plätze, öffnete das Hafenbecken zur Altstadt und holte damit das Meer in die Stadt. Als La Biosfera schwimmt im Hafenbecken eine transparente Blase mit tropischer Vegetation, Vögeln und Schmetterlingen. Il Bigo erinnert an alte Schiffskräne, die früher Autos und andere große Waren verluden. Der rotierende Schiffsladebaumlift ermöglicht vierzig luftige Meter über dem Hafen einen Blick, den sonst nur die Möwen genießen. In den früheren Hafengebäuden und Lagerhallen finden heute Veranstaltungen, Kulturevents und Kongresse statt. Im ehemaligen Baumwollspeicher Magazzini del Cotone bestaunen Besucher:innen des Galata-Marinemuseums den Nachbau einer genuesischen Galeere in Originalgröße.
Meerjungfrauen und Streichelfische
„Mama, darf ich den Fisch streicheln?“ Selten, dass man diese Frage in einem öffentlichen Aquarium mit Ja beantworten kann. Dort, wo man hinlangen darf, tummeln sich keine Piranhas oder Haie. Kinderhände berühren manchmal begeistert, manchmal skeptisch kleine Rochen, Barben und Brassen. Auf der Hafenlänge des Porto Antico erstreckt sich Europas zweitgrößtes Aquarium. Renzo Piano und der auf die Planung von Aquarien spezialisierte Architekt Peter Chermayeff schufen auf 27.000 Quadratmetern siebzig unterschiedliche Unterwasser-Lebensräume. Hundsrobben, Humboldtpinguine, japanische Riesenkrabben oder Ohrenquallen sind nur einige der rund 15.000 Tiere aus etwa 600 verschiedenen Arten hier. Verspielt agieren Delfine mit den Menschen vor den Glasscheiben. Jährlich bestaunen mehr als 1,2 Millionen Besucher:innen die Großen Tümmler. Das sind mehr, als Michelangelos David in der Galleria dell’Accademia in Florenz empfängt. Das Aquarium ist eines der wenigen der Welt, in denen Seekühe leben. Die plumpen Meeressäuger sollen der Ursprung für Seefahrerlegenden über Meerjungfrauen sein. Auch Christoph Kolumbus notierte am 8. Januar 1493 die Sichtung von drei Meerjungfrauen am Bug seines Schiffs in sein Tagebuch.
Der Brückenbauer
Im Sommer 2018 stürzte die Morandi-Autobahnbrücke ein. Ein Schock für Genua. 43 Menschen starben, mehr als 500 wurden obdachlos. Das Unglück zerstörte eine wichtige Verbindung der Stadt: zwischen dem Hafen im Westen und der Altstadt im Osten. Die Baufälligkeit der einst so stolzen Stadt wurde sichtbar. Eine Woche nach der Katastrophe begann Piano mit der Planung der neuen Brücke über das Polcevera-Tal. Kurz vor dem zweiten Jahrestag des Einsturzes wurde sie für den Verkehr geöffnet. Ein kleines Wunder in einem Land, in dem ähnliche Bauvorhaben oft Jahrzehnte dauern. Mit der neuen Brücke gab Renzo Piano seiner Heimatstadt neues Selbstbewusstsein.
Renzo Piano Building Workshop
Das Atelier des Architekten thront hoch über dem Meer. Um ihn und seine Kolleg:innen zu besuchen, besteigt man eine kleine Zahnradbahn, die „Funicolare“. Auf roten Klappstühlen schweben Besucher:innen in der gläsernen Kabine den steilen Hang hinauf. Nach zwei Minuten erreicht man das RPBW-Hauptquartier: Leichte, offene Architektur aus Glas und Holz inmitten von Grün gibt den Blick auf weites Blau frei. Den natürlichen Terrassen entsprechend, wird auf unterschiedlichen Ebenen gearbeitet. Das Architekturbüro ist nahezu auf der ganzen Welt tätig. Das aktuellste Projekt dreht sich wieder um Kunst und Kultur: Piano und sein Team entwerfen das Center for Arts & Innovation in Boca Raton in Florida. Das Atelier erinnert mit großen Glasfassaden und vielen Pflanzen an ein Gewächshaus, ähnlich denen, die für den Basilikumanbau an den Hang gebaut sind. Die Abfahrt bei Sonnenuntergang ist eindrucksvoll, vom hellen Berg hinunter zum dunklen Meer.
Nach Höherem streben
Vom Meer auf den Berg und retour. Das plant auch die Stadtverwaltung von Genua. Für 40 Millionen Euro soll bald eine Seilbahn vom Bahnhof Principe zur Festung Begato aus dem 19. Jahrhundert oberhalb der Stadt führen. 800 Personen pro Stunde zwischen siebzig Meter hohen Masten über den Wohnvierteln, das findet in Genua nicht nur Anklang. Die Bürgerinitiative dagegen heißt „Con i piedi per terra“, Boden unter den Füßen. Für eine Unterstützung von zehn Euro bekommt man ein Baumwollsackerl: Unter dem roten Schriftzug „No Funivia“ liegt die Altstadt Genuas darnieder. Gerammt von einem riesigen Kreuzfahrtschiff und geteilt von monströsen Seilbahnmasten. Wie wohl die Stadt von da oben aussehen wird?
TIPP
Anreise bequem und klimafreundlich täglich mit dem Nachtzug über zwei Strecken: Wien und Salzburg.
Der in Genua berühmte Trallalero ist A-cappella-Gesang der Hafenarbeiter. In der Trattoria Tralalêro sucht man Hafenarbeiter vergebens, dafür wallen Segel an der Decke. Fisch, Krabbe und Oktopus hängen nicht nur als Bilder an den Wänden, hier kommen sie fangfrisch auf den Tisch.
Eine Zeitreise in Italiens Belle Époque unternimmt man nur ein paar Gehminuten vom Bahnhof Genova Piazza Principe bei einem Aufenthalt im Grand Hotel Savoia. Geheimtipp: der abendliche Blick von der Dachterrasse über die beleuchtete Stadt.
Bild: Trattoria Tralalêro