CHI CHI CHICAGO
complete Magazin 2024
Der Trendsetter im Mittleren Westen erfindet sich seit zwei Jahrhunderten immer wieder neu. Nun machen der revitalisierte Riverwalk und Gentrifizierungsviertel wie West Loop, Pilsen oder Wicker Park Chicago schick.
Ein Löwe mit kupferspangrünem Pelz, dahinter der Platzhirsch des Chicago Art Institute: Auch das klassizistische Gebäude an der Michigan Avenue erzählt, warum Chicago als „Stadt der breiten Schultern“ gilt. Ende des vorletzten Jahrhunderts, die Werkbank am Lake Michigan lief wie geschmiert, war der Ehrgeiz der Mäzene ausgebrochen. Wie im Rausch wurde ein beeindruckender Bestand zusammengetragen: 300.000 Werke, die heute 5.000 Jahre Kulturgeschichte abdecken, von chinesischen Bronzearbeiten bis zu Schlüsselwerken des Impressionismus. Die Botschaft war klar: Hinter Chicago beginnt das strohgelbe Leuchten und die gnadenlose Leere der Prärie. Aber zugleich forderte die Stadt in Amerikas Mitte die ganze Welt heraus. Ölschinken von Renoir statt Schweinebäuche. Sonnenblumen von van Gogh, die aus Weizensack-Renditen berappt wurden.
Nabel der Moderne
Potent drückten Chicagos Schlachthauskönige und Eisenbahnmagnaten auf die Maler- und Architekturtube, das Megamuseum war ein Zugewinn neben vielen weiteren. Immerhin wurde 1884 mit dem zehnstöckigen Home Insurance Building in Chicago der Wolkenkratzer erfunden. Der Stahlskelettbau schuf einen Bautypus, der in Folge zum unverrückbaren Markenzeichen des urbanen American Way of Life wurde. Später kultivierte der Bauhaus-Emigrant Mies van der Rohe den Skyscraper zum Ausdruck modernistischer Perfektion. Sprich: Chicago ist nicht eine, sondern DIE Stadt der Moderne – und erfindet sich in regelmäßigen Schüben neu.
Riverside-Rendite
Die Rekonstruktion der Chicago Riverside schlug zuletzt in diese Kerbe. Stylische Cafés und Weinbars sind hier entstanden. Leih-Paddelboote flitzen an exklusiven Jachten vorbei. Schicke Stadtmöbel laden ein paar Meter unter Straßenniveau zum Betrachten der eisernen Zugbrücken ein, die Chicagos nasse Lebensader seit den Tagen der Schlachthöfe säumen und noch immer in Betrieb sind. Fantastische Häuserraketen wie das Union Carbide Building oder das Chicago Board of Trade Building kratzen am Stadthimmel.
Exklusive Innenansichten
Spaziert man etwas später im Schlepptau eines Architektur-Guides die schnurgeraden Straßen entlang, offenbart Chicago ganz andere Perspektiven. Statt „Go West!“ lautet das Motto „Go inside!“. Denn mit Größe allein ließen es die Baulöwen vor hundert Jahren nicht bewenden. Sie statteten Chicagos Wolkenkratzer mit inwendiger Pracht aus, die zunächst kaum zu erahnen ist. Wer Chicago aus der streng symmetrischen Perspektive eines Bank-of-America-Building-Portiers erlebt, findet sich plötzlich zwischen denkmalgeschützten Marmorwänden in dreidimensionaler Zickzack-Optik wieder. Oder neben Art déco-Aluminium, das bis aufs kleinste Briefkasten-Detail unverändert geblieben ist.
Freie Sicht für alle
Eine Stadt für den zweiten Blick – das ist die Windy City auch jenseits der ikonischen Skyscraper. Zur Lakefront, dem 35 Kilometer langen Vorgarten am Michigansee, der unverbaut blieb, weil er allen gehören soll, sind es nur wenige Schritte. Chicago verfügt über 750 Hektar Parkanlagen, über acht Jachthäfen und 29 Strände. Am zentralsten liegt die Oak St. Beach, ein leicht unterkühltes Gegenstück zu den Stadtstränden der amerikanischen Westküste. Ein Zufall ist das nicht, sondern das Resultat einer gelungenen Stadtplanung. Freie Sicht für alle Bürger:innen statt Luxuslage für wenige Privilegierte! Diese Devise setzte sich 1909 durch, als Daniel Burnham für Chicago einen strengen Straßenraster und unverbaute Seeufer propagierte.
Comeback der Vorstädte
Am Ufer des Lake Michigan ist heute das progressive Amerika zuhause. Die Northsider-Gegend um den Lincoln Park, einst Heimat zugewanderter Iren, hat als „Yes we can“-Homebase der Obamas von sich reden gemacht. Und Wicker Park und das rauere Ukrainian Village von den wilden Tagen ihrer Art Communities. Nun sind die Ateliers ziviler geworden, die Vintage-Plattenläden und Hipster-Cafés zahlreicher.
Madonnen und Amtrak-Züge
Das raue Pilsen schlägt in eine ähnliche Kerbe: Jeff Zimmermanns 16th-Street-Wandgemälde sind Fixposten der lokalen Subkultur – und inspirierten Künstler:innen in ganz Amerika. Sie lassen markante Profile von Native Americans, himmelblaue Madonnen und Latino-Arbeiter:innen in leuchtenden Farben auferstehen. Daneben rattern vorüberbrausende Amtrak-Züge. Besser gelingt die Erzählung vom Verkehrsknotenpunkt Chicago und von der Sehnsucht nach der umliegenden Weite der Prärie kaum wo. Die Schoenhoffen Brewery an der Canal Street, die Al Capone einst gekauft hatte, um alkoholfreies Bier zu brauen, in das später Hochprozentiges gegossen wurde – auch sie ist immer noch da.
Alles Wurst in West Loop
Der ehemalige Fulton Market, nur wenige Minuten westlich vom Loop, ist ein weiteres Beispiel für das suburbane Chicago. Die Schlachthäuser des Meatpacking District haben sich hier zum Brunch-Paradies West Loop gemausert. Neben moosgrün lackierten Schnellbahnbrücken und Wandbildern mit altmodischer Salami-Werbung servieren Läden nun Würste aus aller Welt, plus polnische Salzgurke mit feinem Dillgeschmack. Butcher Shop, Neighborhood Café, Bäckerei und Gourmet Shop in einem – das bringt die Metamorphose des Schlachthaus-Bezirks ziemlich appetitlich auf den Punkt.
TIPPS
- Idealer Ausgangspunkt für die Erkundung des River Walk ist das Hyatt Regency Chicago.
- Die versteckte Lage unter der Brücke der Michigan Ave macht das Pub-Urgestein Billy Goats zum Spezialtipp.
- Nicht ganz so alt wie die Tränken der Zwanziger, aber voll von authentischem Italo-Charme: der Club Lucky im vorstädtischen Little Italy.
- Im Bierlokal Dusek’s Board & Beer neben der revitalisierten Thalia Hall wird das alte Pilsen lebendig.
Bild: Die Amtrak-Verbindung des California Zephyr