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Und wo sollen die Hühner hin?

complete Magazin 03/23

Modernistischen Bauten aus Stahlbeton machten Yasmeen Lari mit dreißig Jahren zur berühmten Architektin. Heute, mit über achtzig, ist sie ein Idol, weil sie Häuser aus Bambus und Lehm entwirft.

Yasmeen Lari war Pakistans erste Architektin. Heute, mit 83 Jahren, hat sie zahlreiche Architekturpreise gewonnen und ist international bekannt
© Archiv Yasmeen Lari
Für ihre Low-Cost- und Zero-Carbon-Bauten verwendet Yasmeen Lari organische Materialien, die in der Umgebung leicht verfügbar sind
© Archiv Yasmeen Lari
Der von Lari entworfene Chulah-Herd wird von den Köchinnen selbst gebaut und dekoriert
© Archiv Yasmeen Lari
Die Entwürfe von Yasmeen Lari orientieren sich an jahrhundertealten pakistanischen Bauweisen
© Archiv Yasmeen Lari

„Ich war nie untätig“, sagt Yasmeen Lari. Wenn die erste Architektin Pakistans über ihre Arbeit redet, erzählt sie meist von Großprojekten, die sie realisiert hat, und sagt im nächsten Atemzug: „Und wir müssen noch mehr machen.“ Sie spricht ruhig, mit großem Nachdruck und in präzisem Englisch. Ihre 82 Jahre merkt man ihr nicht an. Höchstens, wenn sie sich nach vorne beugt, um eine Frage besser zu verstehen – das Gehör lässt allmählich ein wenig nach.

So etwas hält Lari jedoch nicht von der Arbeit ab. Seit beinahe zwanzig Jahren entwickelt und errichtet sie in Pakistan Häuser aus Bambus, Lehm und Kalk. Dabei folgt sie stets drei Grundsätzen: Zero Carbon, Zero Waste, Low Cost. Ihre Wohnstätten sind klimaneutral und werfen keinen nicht verwertbaren Abfall ab. Ganz ohne Geld lässt sich freilich nicht bauen, aber die Kosten ihrer Projekte sind gering. „In meinem Land lebt die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Auch diese Menschen müssen wohnen. Mit Würde“, sagt Lari. Als Reaktion auf die Naturkatastrophen, die Pakistan immer wieder heimsuchen, entwickelte sie erdbeben- und flutsichere Konstruktionen. Sollten sie bei einem besonders starken Beben doch zusammenbrechen, können diese Häuser leicht wieder aufgebaut werden: mit nachhaltigen Materialien und von den Bewohner:innen selbst.

Selbermachen ist einer der wichtigsten Grundsätze für Lari: Da in vielen einfachen Häusern Pakistans Bedarf an besseren Kochmöglichkeiten besteht, entwarf sie 2014 den Prototyp für einen mit Kalk verputzten Lehmherd, der mittlerweile von Tausenden Frauen gebaut und genutzt wird. Er ersetzt das traditionelle Kochen über offenem Feuer. Dabei bleibt Rauch in den Räumen hängen, schädlich für Lunge und Augen. Die Chulah-Herde von Lari sind rauchfrei und dadurch nicht nur weitaus sicherer und sauberer – sie verbrauchen auch bis zu siebzig Prozent weniger Feuerholz. Gekocht wird auf einer gemauerten Plattform, die Öfen werden von den Frauen selbst designt und dekoriert. „Ich hatte das nicht erwartet – aber es hat das Selbstwertgefühl der Frauen verändert“, sagt Lari. Befeuert wird mit einer Mischung aus Kuhmist und Sägespänen – beides im Überfluss vorhanden. 2018 wurde der Chulah-Herd mit dem World Habitat Award der UN ausgezeichnet. Ein Jahr später gab es in Pakistan mehr als 60.000 Chulahs. Die Null-Kohlendioxid-Selbstbauanleitung für Häuser hat eine Bewegung in Gang gesetzt.

Dabei hat die Architektin keineswegs ihr ganzes Leben damit verbracht, Wohnstätten aus Lehm zu bauen. Yasmeen Lari kommt aus reichem Hause, bei ihrer Geburt 1941 stand Pakistan noch unter britischer Herrschaft. Wegen der privilegierten Stellung ihrer Familie konnte sie in England studieren. Mit 23 Jahren eröffnete sie ihr Architekturbüro in Pakistan und wurde mit Projekten bekannt, die den Geschmack der pakistanischen Oberschicht trafen: Modernismus und Stahlbeton. Ihr eigenes Wohnhaus in Karatschi (fertiggestellt 1973) gilt als Wegweiser des Brutalismus, ihr Pakistan State Oil House (fertiggestellt 1991) ist ein Beton und Glas gewordenes Monument erdölgetriebener Exzesse.

Zur selben Zeit macht Lari erste Erfahrungen mit sozialem Wohnbau: 1973 wurde sie mit dem Projekt Angoori Bagh betraut. Der Bau in Punjab sollte 6.000 Wohnstätten für Familien mit geringem Einkommen umfassen. Bei der Planung von Angoori Bagh lernte sie, auf die Wünsche der künftigen Bewohner:innen zu hören. Eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Dem sei aber oft nicht so, sagt sie. „Als Außenstehende tut man Dinge, die man für richtig hält, aber die Realität der Bewohner:innen ist eine andere.“ Als sie den pakistanischen Frauen, die in den neuen Unterkünften leben sollten, ihre Entwürfe vorstellte, fragten die: „Und wo sollen unsere Hühner hin?“ Also plante Yasmeen Lari Terrassen, auf denen Hühner gehalten werden können, Gemüse gezüchtet werden kann und die Platz für spielende Kinder bieten.

Im Jahr 2000 zog sich Lari aus dem Architekturgeschäft zurück. Ihr Plan war, sich mit der Erhaltung von Kulturerbe zu beschäftigen und Bücher zu schreiben. Der Plan ging nicht auf. 2005 wurde Nordpakistan von einem Erdbeben der Stärke 7,6 auf der Richterskala erschüttert. 80.000 Menschen kamen ums Leben, 400.000 Familien verloren ihre Heimat. Lari wollte helfen. Seitdem arbeitet sie Vollzeit. Zwischendurch hält sie Vorträge und nimmt Preise entgegen. Oder sie reist nach Wien, wo sie kürzlich an der Eröffnung einer Ausstellung über ihr Werk teilnahm.

„Ich fürchte, ich habe keine globalen Lösungen“, sagt Lari. Erstens hat sie sich stets auf ihr eigenes Land konzentriert, ihre Entwürfe basieren auf den lokalen Gegebenheiten. Zweitens steht sie universellen Lösungen skeptisch gegenüber. In der Architektur solle man auf lokale und traditionelle Formen setzen, „die auf uralten Weisheiten beruhen. Und wir müssen alles neu denken, und wir müssen es jetzt tun.“

© Archiv Yasmeen Lari

TIPPS

„Yasmeen Lari: Architektur für die Zukunft“. Ausstellung im Architekturzentrum Wien

https://www.azw.at/de/termin/yasmeen-lari/

Im AzW ist derzeit die weltweit erste Schau zu Yasmeen Lari zu sehen. Die Ausstellung zeichnet die Entwicklung der pakistanischen Architektin nach und fragt, was Architektur zur Bekämpfung von sozialer Ungerechtigkeit, Klimakrise und Sexismus beitragen kann.

Bild: Yasmeen Lari entwirft Wohnhäuser, die hochwasser- und erbebensicher sind. Sollten sie trotzdem beschädigt werden, können sie von den Bewohner:innen selbst wieder aufgebaut werden

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