Beim Elefanten auf der Insel
complete Magazin 08/22
Nantes ist ein bisschen verrückt, vor allem im Sommer. Die französische Stadt an der Loire nimmt einen auf eine künstlerische Reise mit
Sie liegt im Süden der Bretagne. Und sie hat sich nach dem Niedergang in den 1980er-Jahren neu erfunden: die Stadt Nantes. Mittlerweile verwandelt ein Kunstfestival (www.levoyageanantes.fr) Nantes jährlich bis zum 11. September in ein urbanes Open-Air-Museum. Installationen tauchen an unterschiedlichen Orten auf. Dazu gibt es Konzerte, Partys und Ausstellungen. Mehr als vierzig Kunstwerke sind über die Jahre zum fixen Bestandteil des Stadtbilds geworden. Nantes ist mutig und anders. Das liegt auch an seiner bewegten Geschichte.
Im 18. Jahrhundert florierten hier Sklavenhandel und Schiffsbau. Die Hälfte aller französischen Sklavenschiffe liefen in Nantes aus. An der einstigen Anlegestelle Quai de la Fosse steigt man in ein unterirdisches Mahnmal. Laut schwappt das Wasser an die Kaimauer wie früher an den Bauch der Schiffe, deren Namen in 1.800 Glasplatten am Boden eingraviert sind.
Ab 1980 stürzte der Niedergang des Schiffbaus die Stadt in eine schwere Krise. Nirgendwo in Frankreich gab es mehr Arbeitslose. Verwaiste Werkstätten, Lager und viel Rost auf der Île de Nantes, einer Loire-Insel mitten in der Stadt. Ein mutiger Bürgermeister wagte den Wandel zur grüne Kulturstadt – weltoffen und nachhaltig sollte sie werden, kreative Menschen ihre Zukunft gestalten.
Jean Blaise, Gründer und Leiter der „Voyage à Nantes“, war bei der Transformation dabei. Er stellte dem Künstlerkollektiv „Royale de Luxe“ einen leeren Bananenhangar zur Verfügung. Sie waren die Ersten, die die Industriebrache belebten. Heute sind ihre „Les Machines de l’Île“ ein weltweit einzigartiges Kunstprojekt. Mechanische Maschinen aus Eisen, Holz, Leder und Glas erwachen in ihren Werkstätten zum Leben. Seit 2007 läuft der „Grand Éléphant“ über die Île de Nantes. 48,4 Tonnen Stahl und Holz. Er prustet und schwingt den Rüssel.
„Kreativität hat die Menschen hier verändert“, sagt Blaise. Er ist davon überzeugt, dass Kunst eine Gesellschaft offener macht. Im „Le Nid“, dem „Nest“, der Bar in einem Wasserturm hoch über der Stadt, bildet ein riesenhafter Storch die Theke. „Künstler*innen haben uns gelehrt zu spielen und nicht immer alles so ernst zu nehmen“, lacht Blaise.
Als Leitfaden zu den Kunstwerken wurde einst eine 8,5 Kilometer lange Linie auf die Straße gemalt – in Rosa. Heuer ist sie grün und mehr als doppelt so lang. Nantes hat die Auszeichnung „Umwelthauptstadt Europas“ erhalten. „Suivez la ligne!“ heißt es hier, und der grünen Linie in Nantes folgt man gern.
TIPP
Wohnen im Micr’Home
Das von Myrtille Drouet für das Festival gestaltete Mini-Haus füllt einen nicht einmal drei Meter breiten Spalt in der Rue de la Fosse. Fünf Meter über dem Boden wohnt man auf drei Ebenen in einer 26-Quadratmeter-Wohnung (in Paris zahlt man für eine 18-Quadratmeter-Wohnung weit über 250.000 Euro). Platzangst sollte man nicht haben: Die Treppe ist eine Leiter und der Koffer wird mit dem Seilzug nach oben gezogen.